Die meisten Tage sind ganz normal. Ein paar, seltene Tage sind genauso normal, aber ganz wenige davon sind ein wenig anders. Mitunter so wenig, dass man es kaum bemerkt. Nur, wenn man ganz genau hinsieht. Vielleicht war gestern einer dieser Tage.
Wie so oft wollte ich in meinem Lieblingscafe ein wenig Entspannung (oder auch Spannung) finden. Der Weg dorthin bei feinstem Sommerwetter – normal. Das Einbiegen in die wohlbekannte Seitenstraße – normal. Das Fahrrad abstellen und sorgfältig verschließen, von der warmen, sonnendurchfluteten Straße mit ihrer Hektik hinein in das kühle Dunkel der Caferäume im mediterranen Stil – normal, gewohnt, unauffällig, angenehm.
Vor der Theke findet sich meist eine kleine Warteschlange. Da man sich den Kaffee selbst dort bestellen und abholen muss und eben dieser ob der zu erwartenden Qualität mit großer Sorgfalt und dem damit verbundenen Zeitbedarf hergestellt wird, muss man ein wenig warten. Das ist nicht unangenehm, steigert es doch die Vorfreude. Ich hielt auf das Ende der Schlange zu. Sobald sich meine Augen etwas an das Dunkel gewöhnt hatten, entdeckte ich unmittelbar vor meinem Vordermann in der Schlange ein Krokodil, das dort feist auf dem Boden lag und durch seine beachtliche Körperlänge auch die Länge der Schlange deutlich streckte. Ich weiß nicht, ob auch in freier Wildbahn Krododile Schlangen strecken, aber hier war es so. Bei näherem Hinsehen konnte ich erkennen, dass so etwas wie der Rest eines Armes samt Hand leicht seitlich nach vorn gestreckt aus dem beeindruckend zahnbewehrten Maul des Krokodils ragte. Ohne mich festlegen zu wollen, vermutete ich dem ersten Anschein nach, dass es sich um eine Männerhand mittleren Alters handelte. Offenbar hatte das Krokodil erst kürzlich einen Platz in der Schlange gutgemacht. Nun muss ich dazu sagen, dass Krokodile in meinem Lieblingscafe nicht häufig anzutreffen sind und so sehr ich auch mein Gedächtnis bemühte fiel mir kein weiterer Fall dieser Art ein. Das Krokodil sah nicht unzufrieden aus.
Manchmal wundere ich mich über das, was mir in ungewöhnlichen Situationen durch den Kopf schießt. Dieses Mal nicht. „Oh, ein Krokodil!“ traf mich der Geistesblitz aus heiterem Himmel und schlug bis auf mein Zwerchfell durch, so dass ich leicht grinsen musste. Das passte nicht zur Situation. Als hätte es meine Gedanken gelesen, drehte das Krokodil seinen Kopf leicht zu mir um und rollte mit den gelben Augen, so dass ich jetzt seine Gedanken lesen konnte: „Schon wieder so ein Oh-ein-Krokodil-Typ, Spießer.“ dachte es. Ich konnte es deutlich sehen und schämte mich ein wenig für meine Einfältigkeit, für die ich nun von einem Krokodil mit einem Gehirn von der Größe einer Walnuss despektiert wurde. Den Blick des Krokodils hatte auch mein Vordermann bemerkt und er sah sich ebenfalls zu mir um, als wollte er sagen: „Schon blöd, wenn Krokodile mit den Augen rollen, nicht wahr?“
Nachdem ich zu alter Geistesschärfe zurückgefunden hatte, stellte ich mir in dieser Situation sofort zwei vitale Fragen:
1.) Sind Krokodile ungefährlich, wenn sie satt sind? Bei Löwen ist das so, aber aus Löwen macht man keine Handtaschen, so dass man es nicht vergleichen kann.
2.) Viel entscheidender: Wann ist ein Krokodil satt? Reicht ein Mann mittleren Alters, um den größten Hunger zu vertreiben? Vielleicht hat sich das Krokodil den Mann mit seiner Frau – also der Frau des Krokodils, nicht des Mannes – teilen müssen, und sie ist nur gerade zur Toillette während ihr Krokodilsgemahl den Platz in der Schlange freihält? Vorsichtig schiele ich zur Toillettentür mit dem Messingschild, das ein kleines Mädchen zeigt. Oder war es ein sehr kleiner Mann, der schon zu Lebzeiten als Halbe Portion betitelt wurde, wenn auch nur hinter seinem Rücken? Das Krokodil war noch nicht der Erste in der Schlange und somit auch nicht an der Reihe, etwas zu bestellen. Naheliegende Fragen wie „Was bestellt ein Krokodil in einem Cafe?“ (Zebratorte?) beschäftigten mich weniger als die sorgfältige Erwägung, dass das Krokodil weiteren Nahrungsbedarf schließlich am besten mit Hilfe vor ihm in der Schlange befindlicher Personen stillen konnte, was ihm einen doppelten Vorteil eingebracht hätte: Satt und dem Dessert näher. Und müsste mein Vordermann sich nicht mehr Sorgen machen als ich? Der aber spielte mit seinem Smartphone und sah unbesorgt aus. Das erschien mir so überzeugend, dass ich in Ruhe abwarten konnte, bis ich an der Reihe war und mir meinen Kaffee bestellen konnte. Ich entschied mich für eine große Tasse mit etwas Milch.
Damit setzt ich mich zufrieden zu dem Affen an den Tisch am Fenster und las etwas in der dort ausliegenden Zeitung, die aber über nichts als einen völlig normalen Tag zu berichten wusste.